Sie hatte es sich verdient.

Daran gab es für Brynja Jonadottir keinen Zweifel. Sie schloss die Haustür zu ihrer Wohnung im Dachgeschoss eines Frankfurter Vorortes auf, holte die Post aus dem Briefkasten und lief leichtfüßig die Treppen in den vierten Stock hinauf.

Nach dem Eintreten gab sie der Wohnungstür einen übermütigen Schubs mit dem Po, so dass sie mit einem Klacken hinter ihr ins Schloss fiel. Brynja streifte die hochhackigen Pumps von den Füßen und stellte sie in den Schuhschrank. Auf dem Weg ins Schlafzimmer warf sie die Post auf den Küchentisch. Die Umschläge rutschten über die Platte und blieben an der Tageszeitung hängen, die sie nach dem Frühstück dort hatte liegen lassen.

Ganz gegen ihre Gewohnheit ließ Brynja ihr teures Kostüm einfach auf den Boden gleiten. Doch wie es so da lag auf dem cremefarbenen Teppich, lieblos hingeworfen, bekam sie ein schlechtes Gewissen. Sie war dazu erzogen worden, das, was einem gehörte, pfleglich zu behandeln. Also hängte sie mit einem kleinen Seufzer Rock und Jacke ordentlich auf einen Bügel und schlüpfte in den dunkelgrünen Hausanzug aus Nickystoff. Die ganze Zeit über lächelte sie. Zurück in der Küche, fiel ihr Blick auf die angebrochene Tüte Toastbrot und erst jetzt bemerkte sie, dass sie den Tag über völlig vergessen hatte zu essen. Ihr Kühlschrank gab kaum etwas Vernünftiges her. Da sie fast immer in der Stadt zu Mittag aß, kochte sie so gut wie nie und hatte kaum Vorräte im Haus. Ohne lange zu überlegen, beschmierte sie drei Scheiben des pappigen Brotes mit Butter und nahm eine angebrochene Tafel Nussschokolade aus dem Schrank. Eine Tasse Tütencappuccino rundete das karge Mahl ab. Eigentlich hatte sie heute schon genug Kaffee getrunken. So wie jeden Tag. Er machte sie morgens richtig wach und nach vielen Stunden konzentrierter Arbeit wieder munter. Die übrige Zeit schmeckte er einfach gut. Kaffee gehörte zum Werbebusiness wie Alkohol zu einer Fete. Und beides war, in Mengen genossen, ungesund. Brynja tröstete sich damit, dass in dem Fertigpulver alles Mögliche zu finden war, und Kaffee stand ganz hinten auf der Zutatenliste. Die Tasse in der Hand, blieb sie am Tisch stehen und ließ den Tag im Büro vor ihrem inneren Auge ablaufen. Ihr Chef Luca Bendotti hatte sie gleich am Morgen in sein Büro gerufen. Brynja hatte gehofft oder besser gesagt, damit gerechnet, dass er ihren Einsatz würdigen würde. Aber dass es so schnell passiert war, freute sie umso mehr. Ein paar Wochen zuvor war ihr Kollege Klaus Helferich wegen eines Unfalls ausgefallen und seine Projekte hatten auf die anderen Teams verteilt werden müssen. Sofort hatte Brynja angeboten, für die dringenden Termingeschäfte die entsprechenden Recherchen durchzuführen und Slogans zu entwerfen. Der Anlass hätte natürlich ein besserer sein können. Doch Brynja zauderte nie lange, wenn sich eine Gelegenheit bot. Sie gehörte morgens zu den ersten im Büro und war bereit, jederzeit Überstunden zu leisten. Die Ideen schienen ihr zuzufliegen und mit ihrer Begeisterung steckte sie andere an. Allerdings gefiel ihr Einsatz nicht jedem in der Werbeagentur. Manche Kollegen tuschelten hinter vorgehaltener Hand gerade so laut, dass sie sie hören konnte. „Wie mies, Helferichs Situation auszunutzen, um an seinen Posten zu kommen.“ Dabei war sie gar nicht scharf auf Helferichs Job. Sie wollte ein Team leiten und eigene Projekte betreuen. Einfach die nächste Stufe auf der Karriereleiter gehen. Offenbar konnte man es auf diesem Weg nicht jedem recht machen. Das sagte sie sich, wenn sie merkte, dass sie sich die Äußerungen der Kollegen zu Herzen nahm. Letztlich hatte ihre Strategie den gewünschten Erfolg gebracht. Luca lobte ihre Arbeit, sagte, er habe schon drei Jahren zuvor, als sie beim Bewerbungsgespräch vor ihm gesessen hatte, geahnt, dass sie das Zeug zu einer guten Werbekauffrau hätte. Sie sei mit ihren dreiundzwanzig Jahren zwar noch sehr jung. Dennoch wollte er ihr die Chance geben. Er schob ihr eine Liste mit Namen der Mitarbeiter zu, aus der sie zwei auswählen konnte. Das Projekt lautete: eine Werbestrategie für ein Raumluftspray zu erarbeiten.

„Ich verlass mich auf dich“, hatte Luca gesagt und Brynja hatte ihm versichert, dass sie ihn nicht enttäuschen würde.

Nach dieser Unterredung fiel es ihr leicht, die missgünstigen Blicke einiger Kollegen zu übersehen und sich stattdessen über die ehrlich gemeinten Gratulationen zu freuen. Sie nahm sich vor, das vor ihr liegende Wochenende zur Einarbeitung in das Thema zu nutzen. Allerdings erst ab morgen. Heute wollte sie ihren Erfolg feiern. Während sie darüber nachdachte, wen sie als erstes anrufen sollte, um die Nachricht zu verkünden, klingelte das Telefon. Brynja eilte nach nebenan in den Flur und nahm den Hörer ab.

„Ich bin's", meldete sich eine Frauenstimme.

„Hallo, Mutti. Wie geht's?" Brynja hob das Telefon von dem kleinen Flurschränkchen und trug es - die lange Schnur hinter sich herziehend - in die Küche. Der Freischwingerstuhl mit dem silberfarbenen Metallrahmen wippte, als sie sich hinsetzte und sich für den üblichen Redeschwall ihrer Mutter wappnete.

Der Cappuccino war nur noch lauwarm. Brynja verzog das Gesicht, trank ihn aber trotzdem. Dem Gespräch folgte sie nur mit halber Aufmerksamkeit, denn der Absender auf einem der Briefe, die noch ungeöffnet auf dem Tisch lagen, machte sie stutzig.

„Oh, das tut mir leid", sagte sie wie automatisch, als sie ihre Mutter von stärkeren Schmerzen sprechen hörte. Das Rheuma plagte sie schon viele Jahre und neben guten Phasen, in denen die Schmerzen kaum spürbar waren, gab es auch immer schlechte. Leider wurden die schlechten häufiger und dauerten länger an. Das bedeutete, dass Brynja ihr öfter helfen musste als früher.

„Brauchst du was?", fragte sie und nahm den Brief zur Hand.

Rechtsanwälte Heimsen und Partner stand auf dem Umschlag. Sie runzelte die Stirn. Hatte ihr Nachbar womöglich einen Anwalt eingeschaltet, weil sie kürzlich auf seinem Stellplatz vor dem Haus geparkt hatte? Zugegeben, es war nicht das erste Mal gewesen und sie hatte länger dort gestanden als geplant. Sein Ärger war also nicht ganz unbegründet. Trotzdem musste er deswegen ja nicht gleich mit Anwälten anrücken. Ähnlich sähe es ihm. Er war ein Stinkstiefel und hatte viel zu viel Zeit, die er dazu nutzte, sich über andere Leute aufzuregen. Mit einer schnellen Handbewegung riss sie die Falz des Umschlags auf und nahm den Briefbogen heraus.

„Brynja? Bist du noch da?" Die lauter gewordene Stimme ihrer Mutter riss sie aus ihren Gedanken.

„Wie, bitte? Oh, entschuldige. Was hast du gesagt?"

„Du könntest mir Verschiedenes einkaufen."

„Natürlich", sagte Brynja abwesend.

 

                                    Frankfurt, den 08.09.1980           

 

Sehr geehrte Frau Jonadottir,

 

im Auftrag der Rechtsanwaltskanzlei Bjarne Omundson, ansässig in Reykjavik, Island, möchten wir Ihnen mitteilen, dass Ihre verstorbene Großmutter väterlicherseits, Frau Hera Björndottir, zuletzt wohnhaft in Mosfellsbaer, Island, Sie testamentarisch bedacht hat.

Wir möchten Sie bitten, sich mit uns in Verbindung zu setzen, um die weiteren Details dieser Angelegenheit zu besprechen.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

„Brynja, hörst du mir überhaupt zu? Was ist denn los?" Ihre Mutter klang nun ein wenig ärgerlich.

„Ich habe einen eigenartigen Brief bekommen.“ Brynja las ihrer Mutter die Zeilen vor. „Was hältst du davon?"

Statt einer Antwort hörte sie nur schweres Atmen.

„Mutti?“

„Ich weiß nicht, Kind.“

„Aber du kennst diese Frau doch. Warum sollte sie mir etwas vererben?“

                                

„Vielleicht ist das eine Verwechslung.“ Ihre Stimme klang dünn.  



Ab sofort ist dieser Roman bei amazon erhältlich. Als kleinen Appetithappen gibt es eine Hörprobe dazu.