| Am Fuß des Niedergangs, einer steilen Stiege, die aufs Oberdeck führte, wartete Ellen auf Gibsons Zeichen. Auf dem Gang hinter ihr blieb alles ruhig. Offenbar hatte sich tatsächlich noch der letzte Mann an Deck eingefunden. Aus dem Gewirr zahlreicher Männerstimmen drangen Gesprächsfetzen zur ihr hinunter. „Auspeitschen.“ „Schaden am Schiff.“ „Neue Befehle.“ „Ruhe!“ Cooks Stimme setzte sich klar und deutlich gegen die anderen ab. „Ich weiß, dass diese Zusammenkunft einige Unruhe ausgelöst hat. Um es kurz zu machen: Sergeant Gibson hat in einem der Laderäume einen blinden Passagier entdeckt.“ Das Gemurmel begann von Neuem. „Prima“, rief jemand. „Eine Arbeitskraft mehr.“ Die Männer quittierten den Zwischenruf mit lautem Gejohle. „Leider nein, denn es handelt sich ...“, Cook machte eine Pause und Ellen hörte wieder nur Gemurmel. „Es handelt sich um eine junge Dame.“ Nach diesem Satz war nichts weiter zu hören als das Rauschen der Wellen und das klatschende Geräusch schlagender Segel. Genauso plötzlich wie die Stille eingesetzt hatte, redeten die Männer plötzlich wild durcheinander. „Ruhe!“, brüllte Cook. „Ich erwarte von jedem - und ich meine von je-dem - das Benehmen eines Gentlemans. Jede Missachtung dieses Befehls wird mit der Peitsche bestraft. Gibson, führt sie an Deck!“ Gibsons Arm erschien in der Luke und winkte. Kaum hatte Ellen die ersten drei Holzstufen erklommen, begann ihr Bauch heftig zu gluckern und zu zwicken. Die Aufregung schlug ihr auf den Darm. Das fehlte gerade noch. Bevor sie sich näher mit dem Gedanken an die Bordtoilette beschäftigen konnte, war sie an Deck angekommen. Gibson bahnte sich eine Gasse durch die gedrängt stehenden Männer. Ellen blieb dicht hinter ihm, den Blick konzentriert auf seine Schulterblätter gerichtet und kam sich vor wie eine Maus, deren einziger Fluchtweg vor dem Fuchs an einer Katze vorbeiführt. Die Stiege zum Achterdeck, dem höher liegenden Oberdeck, war noch steiler als der Niedergang und folgte den Auf - und Abwärtsbewegungen der Wellen. Nachdem Ellen die ersten Stufen verpasst hatte, klammerte sie sich mit feuchten Händen am Handlauf fest und zog sich mehr nach oben, als dass sie die Stufen benutzte. Die ganze Zeit über spürte sie die bohrenden Blicke der Matrosen in ihrem Rücken und hoffte, nicht abzurutschen und womöglich vor aller Augen auf die Planken zu fallen. Cook winkte sie mit zwei Fingern neben sich. Seine Miene blieb starr. Er blinzelte nicht einmal. Ellen sah auf die Männer herab. Eine undurchdringliche Masse schmutziger Kerle, unrasiert, mit braunen Zähnen und unterschiedlich langen Zöpfen. Waren wirklich erst wenige Tage vergangen, seit Jana mit Abscheu im Gesicht Ellens Schilderungen von den Strapazen und Entdeckungen dieser Seereisen gefolgt war? „Was findest du bloß an einer Horde stinkender, grober Kerle, die jahrelang über die Meere schippern?“, hatte sie gefragt. „Wenn alle stinken, ist es doch egal“, hatte Ellen lachend geantwortet. Trotz aller Entbehrungen fand sie überall in Cooks Reiseberichten begeisterte Schilderungen von Naturwundern und Begegnungen mit Menschen, deren fremdartige Kultur den Seeleuten gleichermaßen faszinierend wie befremdlich vorkam. Sie hatte sich vorgestellt, wie es gewesen sein musste, Orte zu sehen, die vorher noch kein Europäer betreten hatte. Tiere zu entdecken, die so völlig anders aussahen, als alles, was einem bekannt war. Sie war richtig ins Schwärmen geraten. „Heutzutage ist doch alles entdeckt. Außer in der Tiefsee. Und selbst dahin stößt der Mensch immer weiter vor", waren ihre Worte gewesen und Jana hatte grinsend etwas von "unendlichen Weiten" erwidert, was beide zum Lachen gebracht hatte. Und nun? Nun sah sie nicht anderes als den Dreck und der Würgereiz in ihrem Hals kam dieses Mal nicht von den Schiffsbewegungen. „Männer, das ist Miss Ellen Hof. Zurück an die Arbeit.“ Erstaunt blickte Ellen Cook an. Das war alles? Keine weiteren Anweisungen? Offenbar wurde den Matrosen nicht mehr abverlangt, als sich anständig zu benehmen. Was immer das in dieser Zeit bedeutete. Begehrliche Blicke trafen sie. Ellen schluckte. Nun bedauerte sie doch, den Brandy weggestellt zu haben. Betrunken ließ sich das alles bestimmt leichter ertragen. Oder zumindest war einem die eigene Lage nicht so bewusst. Ein gnädiger Zustand. „Jeder, der keine Schicht hat, verschwindet von Deck“, brüllte ein untersetzter Mann mit der Muskulatur eines Bodybuilders. Widerstrebend gehorchten die Matrosen. Ihr missmutiges Gemurmel war noch eine Weile auf dem Achterdeck zu hören. „Wenn sie könnten, würden sie mich sicher auf der Stelle ertränken“, versuchte Ellen, in einem Anflug von Galgenhumor zu scherzen. Cooks Augenbrauen schnellten in die Höhe. Er antwortete nicht, aber Ellen glaubte in seiner Miene zu erkennen, dass er seiner Mannschaft eher zutraute, ihr auf andere Art Gewalt anzutun. In ihrem Mund sammelte sich Speichel und ihr Magen krampfte. Schnell drehte sie sich um und übergab sich ins Meer. Ohne den Halt der Reling, wäre sie in sich zusammengesackt, so heftig zitterten ihre Beine. Der bittere Geschmack von Galle lag auf ihrer Zunge und sie schluckte mehrmals, um ihn zu vertreiben. Doch hartnäckig hielt er sich in ihrem Rachen und kratzte, als hätte sie eine Bürste verschluckt. „Noch nicht an den Seegang gewöhnt? Dabei haben wir weniger Wellengang als auf einem Teich im Hyde Park.“ Cook reichte ihr ein Stück Stoff. Dankbar nahm sie es entgegen und wischte sich den Mund sauber. „Das ist es nicht. Alle sind so ... , so feindselig“, murmelte sie. Ihre Stimme klang rau und belegt und sie räusperte sich ein paar Mal. „Was habt Ihr erwartet? Jubel?“, bemerkte Cook. Eine steile Falte bildete sich über seiner Nasenwurzel. Ellen stöhnte. Nichts wäre ihr lieber, als in ihre komfortable Wohnung zurückzukehren, wo der Boden nicht schwankte und ihr niemand Furcht einflößende Blicke zuwarf. In was war sie da nur hineingeraten? „Die Mahlzeiten nehmt Ihr mit den Offizieren in der Messe ein. Ich bitte mir Pünktlichkeit aus“, sagte Cook im Befehlston und ging Richtung Niedergang. Nach wenigen Schritten blieb er stehen und drehte den Kopf über die Schulter zurück. „Stört den Ablauf an Bord so wenig wie möglich. Am besten haltet Ihr Euch an die Gesellschaft der Wissenschaftler.“ Im Gehen fügte er leise grummelnd hinzu: „Sicher werden sie davon im höchsten Maße erfreut sein.“ Gore war neben Ellen stehen geblieben. Er verzog die Lippen, was ebenso ein gequältes Lächeln wie Missmut bedeuten konnte. Mit knappen Worten teilte er ihr die Essenszeiten mit und beauftragte Gibson, auf sie aufzupassen. Dann ging er an seine Arbeit. Ellen blieb mit ihren Ängsten und Fragen zurück. Noch nie hatte sie sich so verloren gefühlt. Ihr Blick glitt über das Meer. Es schimmerte in dunklem Grün, Türkis und Lapislazuli. Die Wellenspitzen trugen weiße Hauben, die sich ständig veränderten. Am Bug schäumte das Wasser gegen den Rumpf. Weiter draußen plätscherten kleine Wellen, wie auf einem See. Der Wind kühlte ihre verschwitzte Haut und spielte mit ihrem Haar. Wenn sie sich nicht umdrehte, konnte sie sich einreden, dies wäre die Erfüllung ihres Traums - dabei gewesen zu sein. Einen Tag nur. Wie fantastisch stellte man sich ein solches Abenteuer vom bequemen Sofa aus vor. Wie hart war die Wirklichkeit. Hinter ihr schrie King Befehle. Die nackten Füße der Matrosen platschten auf dem Holzboden. Taue knirschten. Segel entfalteten sich raschelnd und blähten sich im Wind. Sie musste in den Laderaum. Sofort. Gibson stand einige Meter entfernt in der Nähe des Ruders und sprach mit dem Rudergänger. Eine bessere Gelegenheit bekam sie nicht. Gerade als sie ins Unterdeck gehen wollte, wurde sie unsanft am Arm gepackt. „Hey, was soll das?“, rief sie und versuchte sich loszureißen. „Wohin wollt Ihr?“ Gibson hielt sie mit einer Hand, als wäre sie nur ein Kind. Ellen gab ihre Gegenwehr auf. Schon jetzt erweckten sie mehr Aufmerksamkeit als ihr lieb war. „Ich wollte mir das Schiff ansehen“, antwortete sie. „Nur in meiner Begleitung“, ordnete Gibson an und ließ ihren Arm los. Mit schnellen Schritten stieg er den Niedergang hinab. Die Stufen waren schmierig von der ständig in der Luft liegenden Feuchtigkeit. Ellen umklammerte die Handläufe und folgte Gibson mit vorsichtigen Schritten. |
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